Donnerstag, 14. Oktober 2010

Der Priester als Lehrer der Seelen

„Jesus unterrichtete alle in der Wahrheit, Große und Kleine, Arme und Reiche, Kinder und Greise. Vom Obersten der Priester bis zur armen Samariterin wurden alle durch sein Wort belehrt, empfingen alle die Wahrheit aus seinem göttlichen Mund. Mit wunderbarer Beweglichkeit des Geistes und beispielloser Demut wußte er sich der Fassungskraft seiner Hörer anzupassen.

Mit Nikodemus, dem Lehrer in Israel, spricht er tief und erhaben und geht auf die höchsten Geheimnisse ein. Den Priestern und Schriftgelehrten gegenüber stützt sich seine Redeweise ganz auf das Gesetz, die Propheten, die Heilige Schrift. Vor dem Volke ist er einfach und volkstümlich. Er nimmt seine Vergleiche von der Feldarbeit, wie z. B. in seinen herrlichen Parabeln vom Sämann, vom Senfkörnchen, vom Weinberg usw.

Immer richtet er sich nach seiner Zuhörerschaft, aber nie vergibt er sich auch nur im geringsten. Nie redet er gesucht und unverständlich, auch nicht bei den erhabensten Gegenständen. Welcher Reiz liegt in dieser Lehrweise Jesu, die so lichtvoll ist und doch so einfach, so reich an himmlischer Weisheit und so frei von allem überflüssigen Beiwerk! Welch traute Majestät in jedem seiner Worte! Was für ein freundlicher Ernst und bescheidene Würde, welche Überzeugungskraft, Klarheit der Darlegung und Anmut! Welch feinempfundene, hohe Poesie in seinen Vergleichen aus der Natur!

Ja, wenn man im einzelnen den unwiedergeblichen Reiz der Rede unseres Herrn festhalten könnte! Es ist das Wort des Vaters, es ist der göttliche Meister, der vom Himmel kam, um die Seelen zu lehren. Haben wir damit nicht alles gesagt?

Auch der Priester ist es allen schuldig, sie in der Wahrheit zu unterweisen. Will er wahrhaft Apostel, wirklich Priester Jesu sein, dann muß er wie Jesus allen alles werden. Sein einziges Ziel muß dann sein: die Wahrheit mitzuteilen, die er besitzt, und die Liebe, die in ihm brennt.

Weit entfernt also, auf eine besondere Eigenart bedacht zu sein oder eine neue und ganz persönliche Methode zu suchen, die höchstens einige interessieren würde, soll sich der Priester bemühen, sich seinen Zuhörern anzupassen. Immer klar und genau, soll er die Wahrheit einfach vortragen, mit der einzigen Absicht, Gutes zu tun. Dann wird er das Geheimnis jener eindringenden Salbung gefunden haben, die aus dem Herzen kommt und die dem Priester von der doppelten Liebe zu Jesus und zu den Seelen eingegeben wird. Bei der Darlegung der Wahrheit soll er das Beste bieten, was er in sich selber hat, und soll, ohne jemand geringzuschätzen, sich ganz seiner hohen Sendung hingeben: Lehrer der Seelen zu sein.“

(Claret de la Touche)

Die Abgründe der Liebe

„Seit einiger Zeit suche ich mich liebend in die Betrachtung der Unendlichen Liebe zu vertiefen. Meine Seele empfängt dabei sehr tiefe und starke Eindrücke, von denen ich etwas niederschreiben möchte.

Ich schaute vor mir einen unendlich weiten Abgrund, in dessen Tiefen kein menschliches Auge zu schauen vermochte: Es war die erschaffende Liebe.

Die unendliche Liebe hatte den Drang, sich nach außen mitzuteilen. Sie beschloß daher die Erschaffung des Menschen, um auf ihn ganz überströmen zu können ...
Zuweilen hielt Gott inne in seinem Werke, um zu sehen, ob alles gut gemacht war. Und er sah, daß nichts fehlte und alles gut war ...

Danach sah ich einen anderen Abgrund. – Der Mensch hatte gesündigt, hatte die göttliche Ordnung übertreten ... Aber die Liebe, die Vermittlerin Liebe, stellte sich zwischen den sündigen Menschen und den beleidigten Gott und schuf einen so tiefen Abgrund, daß die Gerechtigkeit den Menschen nicht mehr erreichen konnte, um ihn zu strafen.

Viele Jahrhunderte hindurch bewahrte diese Vermittlerin Liebe das sündige Geschöpf vor den Strafen der göttlichen Gerechtigkeit ...

Ein dritter Abgrund tat sich vor mir auf, so weit, so tief und unbegreiflich, daß nur eine unermeßliche Liebe zu ihm hinabsteigen konnte: Es war die Erlöserliebe.

Das Göttliche Wort war Mensch geworden, hatte die Erde betreten, hatte den Menschen die verborgenen Geheimnisse der Erlösung geoffenbart, hatte all sein Blut hingegeben und die sündige Menschheit in diesem heiligen Bad reingewaschen. Das ganze Leben Jesu, seine vielseitige, anbetungswürdige Hinopferung war darin enthalten und wirksam ...

Ein weiterer Abgrund der Liebe trat vor mein geistiges Auge: Die erleuchtende Liebe. Der Heilige Geist, der Geist Gottes, die wesentliche Liebe des Vaters und des Sohnes, war auf die Kirche herabgekommen, um ihr Leben und Fruchtbarkeit zu bringen ...

Ein fünfter Abgrund der Liebe tat sich vor mir auf. Die Zeiten waren vollendet; neue Himmel und neue Welten waren gebildet, und die verherrlichende Liebe war dabei, die Auserwählten zu krönen. Nichts fehlte der göttlichen Fülle. Die Kinder waren heimgekehrt in den Schoß des Vaters, und die Liebe gab sich selber die letzte Verherrlichung, indem sie die Geschöpfe verherrlichte.

Dieser unermeßliche Abgrund enthielt und umfaßte alle Wesen ...

Und noch einen letzten Abgrund sah ich, dessen Ausmaße kein menschliches Wort auszudrücken vermag und den kein erschaffener Verstand je ermessen hat. Es war die Liebe ohne äußere Form, ohne äußere Kundgebungen; es war der unendliche Gott selber.


Am Rande dieses unerforschlichen Abgrundes sank meine Seele in schweigender Anbetung nieder. Da war es mir, als hörte ich eine Stimme zu mir sprechen: „Die Unendliche Liebe umgibt, durchdringt und erfüllt alle Dinge. Sie ist die einzige Quelle des Lebens und jeglicher Fruchtbarkeit; sie ist ewiger Ausgangspunkt aller Geschöpfe und ihr ewiges Ziel. Willst du das Leben besitzen, willst du nicht unfruchtbar sein, zerbrich die Fesseln, die dich an dich selber und an die Geschöpfe ketten und versenke dich in diesen Abgrund.“

(Claret de la Touche)